Ästhetik trifft Effizienz

Ästhetik trifft Effizienz

Interview mit Lorenz Haspel von Schlaich Bergermann Partner

Ende 2021 ist es soweit: der Stuttgarter Flughafen wird an das Stadtbahnnetz angeschlossen, sodass dieser samt umliegender Stadtgebiete wesentlich schneller und einfacher erreichbar sein wird. Doch neben der Erschließung dürfte vor allem die Fertigstellung dieses Teilabschnittes interessant sein: Eine von 72 kohlenstofffaserverstärkten Kunststoffseilen (CFK) getragene Netzwerk-Bogenbrücke, die in 127 Metern quer über die acht Fahrstreifen der Autobahn A8 führt und damit der Stadtbahn ihren direkten Weg zum Zielpunkt ermöglicht. Eine Weltpremiere, denn die Brücke ist die erste große, vollständig an CFK Zuggliedern hängende Verkehrsbrücke der Welt. Ihrem Bau gingen langwierige Forschungen und Zulassungsverfahren voraus. Darüber sprachen wir dem Bauingenieur und Projektleiter der Brücke – Lorenz Haspel von Schlaich Bergermann Partner. Header Bild © Andreas Schnubel

Die Seile der Brücke bestehen aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff (CFK) – was macht das Material besonders?

Carbonfaserverstärkter Kunststoff (CFK) ist ein leistungsfähiger Verbundwerkstoff aus Kohlenstofffasern, die in eine Kunststoffmatrix eingebunden sind. Die mechanischen Eigenschaften von unidirektionalen CFK-Querschnitten sind dabei fast ausschließlich von den hoch belastbaren Carbonfasern abhängig.

Carbon hat sich im Automobilbau und in der Luftfahrt seit langem erfolgreich etabliert. Das liegt neben der extrem hohen Zugtragfähigkeit und dem geringen Gewicht insbesondere an den ausgezeichneten Eigenschaften bei hohen Ermüdungslasten – sprich immer wieder auftretende hohe Belastungsschwankungen. Genau diese Eigenschaft hat uns auf die Idee gebracht, den Werkstoff für die Hänger eines Netzwerkbogens einzusetzen. Bild © Matthias Längle

Welche Vorteile bietet CFK bei dem Entwurf, die andere Materialien nicht bieten können?

In den letzten Jahren wurden in Deutschland als Hängerquerschnitte für Eisenbahn-Netzwerkbogenbrücken – bedingt durch die hohen Verkehrslasten – ausschließlich eingeschweißte Flachstahlhänger eingesetzt.

Seile aus CFK können im Fall von hohen Ermüdungslasten deutlich dünner ausgeführt werden als vergleichbare Zugglieder aus Stahl. Zusätzlich sind die Bauteile auf Grund der geringen spezifischen Wichte deutlich leichter. Aufgrund seiner hohen Ermüdungsfestigkeit eignet sich Carbon sowohl für vorgespannte Betonbauteile als auch für Anwendungen im Brückenbau. Die große Leistungsfähigkeit des Werkstoffs für hochvorgespannte Tragwerke zeigt sich in unserem jüngsten Anwendungsfall im Brückenbau für die Stadtbahnbrücke.

Durch die Verwendung von Carbonzuggliedern als Hänger lassen sich ästhetisch hochwertige und gleichzeitig sehr effiziente Tragwerke realisieren. Der wirtschaftlich sinnvolle Anwendungsbereich für Netzwerkbogenbrücken kann damit deutlich über 300 m Spannweite ausgedehnt werden. Bild © Andreas Schnubel, Bild unten © Matthias Längle

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CFK-Seile für Brücken sind noch kein Serienprodukt wie es etwa Stahlseile sind. Worin lag die Schwierigkeit, diese Seile zu entwickeln?

Vergleichbare Zugglieder, wie in diesem Fall des Herstellers Carbo-Link, werden schon seit einigen Jahren im Kranbau eingesetzt. Trotzdem unterscheiden sich die Anforderungen und insbesondere auch die Zulassungsverfahren um ein solches Bauteil in ein Brückentragwerk mit mindestens 100 Jahren Lebenserwartung einzubauen. Hierzu ist in Deutschland ein Verfahren auf Zustimmung im Einzelfall (ZiE) erforderlich, wofür in diesem Fall umfangreiche Bauteilversuche mit der Empa Dübendorf/CH als erfahrener Partner und Gutachten erstellt werden mussten. Bild © Matthias Längle

Welche Bedenken gab es während der Entwicklung gegenüber dem Material?

Obwohl in der Luftfahrt seit mehreren Jahrzehnten Bauteile aus CFK erfolgreich eingesetzt werden und beispielsweise Rumpf und Tragflächen der Boeing B787 vollständig aus CFK hergestellt werden, sind die Vorbehalte gegenüber einem vergleichsweise jungen Werkstoff hinsichtlich der Dauerhaftigkeit und dem Erhalt der Bauteileigenschaften für einen planmäßigen Nutzungszeitraum von 100 Jahren berechtigt. Erfreulicherweise hatten wir mit der SSB einen aufgeschlossenen Bauherren. Ein weiterer Glücksfall war, dass Herr Prof. Urs Meier der Empa mit über 30 Jahren Erfahrung in der Forschung mit CFK das Projekt als Gutachter begleitet hat. Entsprechende Langzeiterfahrung gibt es mit vergleichbaren Werkstoffen bisher natürlich noch nicht. Bild © Johanna Niescken, Bild unten © Daniel Nieffer

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Wie kann man sich den Fertigungsprozess der einzelnen Seile vorstellen und wie die Installation vor Ort?


Die Herstellung der Zugstangen für die Stadtbahnbrücke erfolgte im Wickelverfahren aus prepreg-tapes: Hierbei werden die Fasern im Endlos-wickelverfahren um die Verankerungsbuchsen gewickelt und anschließend konsolidiert und vernetzt.

Bei der Verwendung von Carbonzuggliedern als Hänger sind systembedingt fügbare Anschlüsse zwischen Hänger und Bogen/Längsträger vorzusehen. Durch das geringe Gewicht können die Zugglieder von zwei Monteuren getragen und eingebaut werden, ohne dass dafür ein Kran erforderlich wird. Im Zuge einer ersten Anwendung wurde eine längenverstellbare Koppellasche entwickelt, welche am unteren Anschluss der Hänger an den Überbau in guter Erreichbarkeit angeordnet wird. Zum Längenausgleich lassen sich Futterbleche einlegen. Im Zuge dieser Erstanwendung konnte bestätigt werden, dass sich die Montage der Hänger dadurch vergleichsweise einfach und schnell bewerkstelligen lässt.

Habt Ihr bereits Erfahrungen bei ähnlichen Projekten gesammelt oder plant bereits weitere auf Grundlage der gesammelten Erfahrungen mit dem Material?

Mit dem Material selbst wurden an der TU Berlin am Lehrstuhl von Mike Schlaich schon einige Forschungsprojekte durchgeführt. So wurde dort beispielsweise bereits 2007 die erste Spannbandbrücke mit Carbonlamellen mit lediglich 1 mm Stärke entwickelt. Ebenfalls an der TU Berlin wurden bei der Entwicklung von Halbfertigteilen erstmals Spannglieder aus Carbon im Brückenbau verwendet.

Aktuell planen wir eine weitere Bahnbrücke über die Oder bei Küstrin. Bei dieser Brücke handelt es sich um ein bestehendes Bauvorhaben, bei dem alternativ eine Lösung mit Carbonhängern untersucht werden soll. Für die zweigleisige Netzwerkbogenbrücke mit einer Spannweite von 130 m soll die mögliche Verwendung des Materials Carbon in Bezug auf die Aspekte der Ermüdung, Standsicherheit und Gebrauchstauglichkeit, sowie einer Beurteilung der Einflüsse auf die Gesamtmassen des Tragwerkes, die Herstellung, den Betrieb und die Instandhaltung /Inspektion untersucht werden. Bild © Teijin, Bild unten © Lorenz Haspel

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Über das Unternehmen

1980 von Jörg Schlaich und Rudolf Bergermann gegründet, leiten heute Knut Göppert, Andreas Keil, Mike Schlaich, Sven Plieninger und Knut Stockhusen in Stuttgart sowie Michael Stein in New York als verantwortliche Partner das Büro. Über 190 motivierte Mitarbeiter bilden das große Team von Schlaich Bergermann Partner.

In Stuttgart schlägt das Herz von Schlaich Bergermann Partner. Mit unserem Büro in Berlin gewährleisten wir die Anbindung an das dortige Baugeschehen sowie mit der Professur von Mike Schlaich die Verbindung zu Lehre und Forschung der TU Berlin.

Unsere Projekte führen uns in die gesamte Welt. Wir wollen da sein, wo unsere Projekte sind. Dabei ist es unser Anliegen, die jeweilige Kultur zu verstehen in der wir planen, um so für die qualitätvolle Umsetzung und Realisierung sorgen zu können. Unsere Standorte in New York, São Paulo, Shanghai, Paris und Madrid schaffen diese räumliche Nähe. Bild © Schlaich Bergmann Partner

 

Die Fragen wurden beantwortet von:

Lorenz Haspel, Director bei Schlaich Bergermann Partner.

 

 

sbp gmbh

Schwabstraße 43
70197 Stuttgart

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