FOKUS Fassade

Die Tiefe der Oberfläche

Ein Gastbeitrag von Melanie Schlegel

Fassaden entwickeln sich zu technisierten Allroundern. Gleichzeitig ermöglicht digitale Fertigung neue Gestaltungsweisen – auch mit traditionellen Materialien.

Gebäudehüllen des 21. Jahrhunderts sind komplex und sie werden immer komplexer. Da sind die enorm gewachsenen Herausforderungen an das, was eine Fassade können muss: technisch hochleistungsfähig,energetisch und klimatisch optimiert, flexibel, individuell, automatisiert und am besten noch nachhaltig und recycelbar. Fassaden werden also immer mehr zu Alleskönnern, zu den Allroundern unten den Bauteilen. Dazu braucht es neue Formen, neue Materialien, neue Technologien und – damit all dies optimal ineinandergreifen kann – interdisziplinäre Planungsprozesse. Architekten und Planer reagieren mit kreativen Entwürfen, die Funktion mit atemberaubender Optik verbinden. Das gelingt auch deshalb, weil sich die Herstellungsprozesse innovativ entwickeln, was ganz neue Gestaltungsmöglichkeiten auch mit altbewährten Materialien erlaubt.

© MVRDV

Adaptive Hüllen und neue Materialien

Seit etwa zehn Jahren wird in Fachkreisen die adaptive Fassade als Gebäudehülle der Zukunft gewürdigt – eine Außenhaut, die sich den aktuellen Bedingungen in Bezug auf Temperatur-, Schall-, Licht- oder Luftqualität flexibel anpassen kann. Allerdings beschränkten sich die Entwicklungen anfangs auf Parameter wie automatisierte Verschattungen oder Sonnenenergiespeicher. Inzwischen ist die adaptive Fassade zu vielem mehr in der Lage: Zum Beispiel kann sie auf klimatische Veränderungen oder individuelles Nutzerverhalten reagieren. Diese Multitalente haben großes Potenzial, den Energieverbrauch eines Gebäudes zu reduzieren, gerade weil sie sowohl auf die Vor- als auch die Nachteile der aktuellen Wetterbedingungen flexibel reagieren können.

Ein solches riesiges Einsparpotenzial erreicht das 2017 nach den Plänen des Wiener Büros Falkeis2Architects fertiggestellte Active Energy Building in Vaduz. Energiesenker wie Geothermie, Grundwassernutzung, aktive und passive solare Nutzung, patentierte PCMKlimaflügel (Phase Changing Material) sowie PV-Elemente sind Teil des Gebäudekonzepts. Um die Stromgewinnung maximal zu erhöhen, sind diese mit einem sogenannten Solar-Tracker ausgestattet. Dieser ist mit der meteorologischen Station verbunden und hat dank der Steuerung eines astronomischen Programms die exakt errechneten Sonnenstandskoordinaten bis ins Jahr 2117 eingespeichert. Mithilfe von Motoren, die wie eine Sonnenblume exakt dem Sonnenverlauf folgen, indem sie die Paneele drehen, hochklappen und im Fünf-Minuten-Takt elektrisch nachjustieren, kann die Stromausbeute um fast 300 Prozent gesteigert werden.

Fokus_Fassade_falkeis.architects_01.jpg
Auf dem Dach des Active Energy Building von Falkeis2Architects in Vaduz verstecken sich Latentwärmespeicher.
Bild © R. Korner

Auch entscheidend für das enorme Einsparpotenzial des Active Energy Buildings sind die Fassadenmaterialien – in diesem Fall hat sich besonders der Latentwärmespeicher PCM verdient gemacht. Die Architekten schöpfen sein Potenzial in hohem Maße aus, indem sie es mit adaptiven Konstruktionen kombinieren: In den aufgeklappten Flügeln der oberen Geschossen verbergen sich die PCM mit dem Hauptträger Paraffin, die die Haustechnik unterstützen und den Heiz- und Kühlbedarf massiv reduzieren. Je nach Sonnenstand, Tages- oder Nachtzeit klappen in den oberen beiden Geschossen mobile Flügel auf. Diese strecken sich entweder der Sonne oder dem Nachthimmel entgegen. Insgesamt wurden acht Tonnen Paraffin verbaut, ein Debüt in dieser Größenordnung. Die besondere Eigenschaft dieses Materials: Bei 32°C verflüssigt es sich, bei 21°C gefriert es. Im zugeklappten Zustand kann die Wärme- und Kälteenergie über Lufttauscher direkt ins Lüftungssystem gespeist werden. Auf diese Weise kann der Heiz- und Kühlbedarf des Hauses um rund 25 Prozent reduziert werden.

Ein weiteres PCM-Wunder steht in Berlin: Das Futurium wurde nach den Entwürfen von Richter Musikowski realisiert und die Fassadenplanung vom Büro Werner Sobek unterstützt. Die Fassade besteht aus über 8.000, je 70 auf 70 Zentimetern großen Kassettenelementen. Diese bestehen aus unterschiedlich gefalteten Metall-Reflektoren und keramisch bedrucktem Gussglas. Um die Wärmeenergie der Sonne und hausinterne Energiegewinne für den Betrieb des Gebäudes nutzbar zu machen, wurde ein neuartiger Hybrid-Energiespeicher eingesetzt. Dieser vereint durch eine patentierte Makroverkapselung das latente Phasenwechselmaterial Paraffin mit dem sensiblen Speichermedium Wasser und erreicht dadurch die achtfache Kapazität von herkömmlichen Wasserspeichern.

Fokus_Fassade_HerzogdeMeuron_02.jpg

Mehr als nur Funktion

Daten, Zahlen und Fakten zum Energieeinsparpotenzial sind natürlich immer beeindruckend. Gleichzeitig aber – und hier lässt sich das Mantra von Werner Sobek anwenden – sollen Gebäude auch atemberaubend schön sein. Christoph Ingenhoven hat dazu mit dem Freiburger Rathaus, das im November 2017 eingeweiht wurde, einen wertvollen Beitrag geleistet. Der Entwurf gilt als das erste Netto-Plus-Energiegebäude dieser Art und Nutzung und beweist, wie anmutend das Nebeneinander von Lärchenholz und PV-Modulen sein kann.

Eine Fassade, die faszinierende Schönheit mit einem ganz neuen Aspekt des Bauens verbindet, hängt am Tai Kwun Zentrum für Kulturerbe in Hongkong: Es ist die derzeit wohl bekannteste Upcycling-Fassade der Welt. Für den Entwurf zeichnen Herzog & de Meuron verantwortlich. Sie planten ein Fassadensystem aus 100 Prozent recyceltem Aluminium. Dieses legt sich in Form eines Metallgitters wie ein Vorhang um die Neubauten. Das Metallgitter be- steht aus unterschiedlich geformten Aluminium- Gussformen, die den Flächen sowohl einen charakteristischen Rhythmus verleihen als auch Lichteinfall oder Belüftung regeln. Weiter ermöglichen sie an diversen Stellen Ausblicke auf die Hongkonger Umgebung.

Interdisziplinär Planen

Je höher die Komplexität, umso wichtiger ist die frühzeitige Zusammenarbeit eines interdisziplinären Planungsteams sowie eine systematische Optimierung des Planungsobjektes. Dann spricht man von integraler Planung. Selbst bei Projekten mit durchschnittlichem Bauvolumen können neben der Architektur zahlreiche Disziplinen zusammenkommen: zum Beispiel Tragwerksplanung, Energieberatung, Gebäudeklimatik, Bauphysik, Schallschutz und Raumakustik, Brandschutz, Fassadenplanung, Heizung-Klima-Lüftung, Elektrotechnik, Gebäudeautomation, Licht-, Abdichtungs- und Höhenzugangsplanung sowie Gebäudeaerodynamik und vieles mehr. Dabei ist der integrale Ansatz bei Fassaden noch recht jung. Während die Glaskonstruktionen der ersten und zweiten Generationen völlig für sich standen, wie zum Beispiel 1851 der Kristallpalast in London oder knapp hundert Jahre später die Structural-Glazing-Fassaden, wurde erst um die Jahrtausendwende der integrale Ansatz bei Doppelfassaden angewendet und erforscht, wie man den Raum zwischen den Gläsern effizient nutzen kann.

Es entstanden neue Lüftungskonzepte und erste Ideen, wie der Zwischenraum für weitere technische Komponenten genutzt werden kann.

Rund zehn Jahre später wurden die ersten Komponentenfassaden inklusive Haustechnik errichtet. Und das nicht nur bei Glasfassaden. Eines der ästhetischsten Ergebnisse ist ein Massivbau: die Designschule in Essen, die 2006 nach den Plänen von SANAA aus Tokyo errichtet und mithilfe von Transsolar mit aktiven Gebäudetechnikkomponenten zum Dämmen und Heizen ausgestattet wurde.

Dass zur Gebäudetechnik auch IT gehören kann, zeigen die Architekten von MVRDV. Demnächst soll von den Niederländern im schwäbischen Esslingen eine Art interaktive Bibliothek entstehen: The Milestone – auch Kristallfelsen genannt – zeigt mit seiner dreidimensional geformten Fassade die Topografie der Stadt. Diese besteht aus porösem Glas, in das sowohl PV-Zellen als auch QR-Codes integriert sind. Die reflektierend-transparente Glasfassade soll gleichzeitig Überhitzung vermeiden, Energie erzeugen und speichern. Der Clou: Besucher können sich per Smartphone-Scan über Esslingen und seine Bewohner informieren.

Fokus_Fassade_RaelSanFratello_01.jpg

Die Fassade aus dem Drucker

Neben der Technisierung der Fassaden selbst verändert sich aber auch der Prozess der Fertigung durch den Fortschritt innovativer Technologien. Das schafft völlig neue Gestaltungsmöglichkeiten. Professor Ulrich Knaack von der TU Delft und der TU Darmstadt beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit der Gebäudehülle in ihrer gesamten Ausprägung – von der skeletthaften Struktur bis hin zu massiven Konstruktionen sowie deren Rückkopplungen in die Gesamtkonstruktion und die Energieperformance. Ein Themenschwerpunkt gilt den additiven Bauteilen – besser bekannt unter dem Namen 3D-Druck. Hauptsächlich verwendet wurde dieser lange Zeit im Industriedesign.

Die Technologie ist inzwischen sehr weit entwickelt und es ist sogar möglich, ganze Häuser in 3D zu erstellen. Jüngstes Beispiel ist das Forschungsprojekt 3D Print Canal House in Amsterdam von DUS Architects, das 2017 fertiggestellt wurde. Als Baumaterial wurde der Kunststoff Polypropylen verwendet. Noch hat diese Bauweise Pilotcharakter, aber es gibt inzwischen einige attraktive additive Fassaden, die nach einer Weiterentwicklung verlangen. Darunter die 2018 im kalifornischen Oakland errichtete Cabin of 3D Printed Curiosities von einer Projektgruppe aus den USA. Die Kabine demonstriert das Potenzial der additiven Fertigung in einem wetterfesten, soliden Gebäude.

Die Frontfassade besteht aus 3D-gedruckten Kachelgefäßen für eine lebende Wand aus Sukkulenten, die im lokalen Klima gedeihen. Die Fliesen wurden mit unterschiedlichen Materialien gefertigt – einschließlich Zement, Sägemehl und Chardonnay-Trauben.

Dachfläche und Seitenfassaden bestehen aus 3D-gedruckten Keramikfliesen, die als Regenschutz dienen. Der Innenraum wurde mit Bio- Kunststoffplatten aus dem Drucker verkleidet, die mit LEDs hinterleuchtet sind. Analog zur Entwicklung der Glasfassaden wartet die noch sehr junge Technologie der additiven Fassade auf Referenzen mit integralem Ansatz – also mit integrierten Haustechnikkomponenten.

Knaacks Forschungen verheißen jedoch, dass sich diese Bauweise in den kommenden fünf Jahren bereits am Markt durchsetzen wird, ganz unabhängig davon, ob Aluminium, Stahl, Beton, Glas, Keramik oder Ziegelstein im 3D-Druck gefertigt werden. Schon jetzt gibt es zahlreiche additiv gefertigte Prototypen aus Aluminium und Stahl für sogenannte Fassadenknoten, die vor allem bei Pfosten-Riegel-Konstruktionen eine hohe Detailschärfe mit sich bringen.

Fokus_Fassade_Textilvb_Copyright_Thomas_Wrede_01.jpg

Neuer Look für die Altbewährten

Am additiven Verfahren wird spätestens deutlich, wie weit die Digitalisierung am Bau bereits vorangeschritten ist. So hat sie auch nicht vor den Werkshallen Halt gemacht. Selbst nicht vor denen der traditionellen Betriebe wie beim Familienunternehmen Bamberger Natursteinwerk Hermann Graser. Dort wird die traditionelle Steinmetzkunst mit der automatisierten Bearbeitung durch Industrieroboter verknüpft. Und das auf hohem Niveau, was eines der jüngsten Referenzobjekte beweist: das Historische Museum in Frankfurt am Main von Lederer Ragnarsdóttir Oei, die dafür 2018 mit dem Deutschen Natursteinpreis ausgezeichnet wurden (siehe Interview auf Seite 33). Für die Fassade wurde der rote Neckartäler Hartsandstein verwendet – ein ortstypisches Material, das vorwiegend an historischen Gebäuden eingesetzt wurde und das Bild der öffentlichen Bauten in Frankfurt prägt. Der Stein wurde in einer Stärke von stattlichen elf Zentimetern mit anthrazitfarbenem Vormauermörtel aufgemauert. Diese Konstruktionsart ermöglichte den Architekten, die Oberfläche des Steins so zu ornamentieren, dass der Stein den Charakter erhält, der ihn seit Jahrhunderten in seiner Schönheit und Dauerhaftigkeit zu etwas Besonderem macht.

Einen ganz ähnlich bildhauerisch anmutenden Charakter hat die Fassade des neuen Verwaltungsgebäudes des Textilverbandes in Münster. Sie scheint in Bewegung zu sein wie ein Tuch im Wind. Die Architekten Behet Bondzio Lin ließen sich beim Entwurf vom Alabaster- Faltenwurf einer Beethoven-Statue von Max Klinger inspirieren. Insgesamt wurden für die Umsetzung des parametrischen Entwurfs rund 70.000 eigens angefertigte Ziegelsteine hergestellt.

Erlebt der Faltenwurf der Fassade durch die Digitalisierung aktuell eine Renaissance? Dem Anschein nach schon, denn auch das renommierte Architekturbüro Snøhetta wartet mit einem solchen auf: Und zwar bei der Fassade des SFMOMA in San Francisco. Das Fassadenmaterial hat allerdings nur noch wenig mit klassischem Bildhauergut gemein, denn die Architekten entschieden sich für glasfaserverstärkten Kunststoff (GFK). Insgesamt wurden über 700 übermannshohe GFK-Platten im Werk gefräst und vorgefertigt, bevor sie vor Ort montiert wurden. In Kombination mit innovativen Verarbeitungsmöglichkeiten kann also auch alt bewährtes Material wie Naturstein, Ziegel oder GFK völlig neue und aufsehenerregende Fassadentypen hervorbringen.

Dass das selbst mit einfachem Glasfaserbeton geht, bewiesen die Querdenker von MVRDV. Nach deren Entwürfen wurde im Herbst 2018 in Seoul der Kunst-Entertainment- Komplex „Imprint“ realisiert, der mit seiner fensterlosen weiß-goldenen Fassade selbst im fertiggestellten Zustand eher wie ein computeranimierter Würfel aussieht als ein real errichtetes Gebäude. Viele der 3.869 Glasfaserbeton- Paneele sind einzigartig, wurden anhand von 3D-Dateien hergestellt und nach der Montage weiß, und an der Eingangsfront gold gestrichen, um das Relief im Design zu betonen. Das Feld an Gestaltungsmöglichkeiten ist jedenfalls so groß wie noch nie – ganz gleich, ob sich Architekten für innovatives Material entscheiden, oder ob sie auf die Altbewährten zurückgreifen.

Entdecken Sie weitere Magazinbeiträge

Magazin
Es werde Licht
Interview mit Sven Sattler von Sattler Lighting
Magazin
Nachhaltigkeit ist der Schlüssel
Interview mit Maija Masalin von Oy Lunawood