Materialien von Morgen

Materialien von Morgen

Zurück in die Zukunft

Nach einem Blick auf Materialien von gestern und Materialien der Gegenwart, richtet sich mein Blick hier und jetzt in die Zukunft. Materialien von morgen. Was erwartet uns? 

Welche Materialien werden relevant sein? Sie ahnen es sicherlich. Aspekte der Nachhaltigkeit, die einigen von uns nicht schnell genug umgesetzt werden – und anderen wiederum nur Fragezeichen oder gar Zornesfalten ins Gesicht zeichnen –, werden treue Begleiterinnen zukünftiger Entwicklungen sein. Und das ist gut so. Dabei stellt sich im Gegenzug auch die Frage, ob Materialentwicklungen sein müssen. Laut Prof. Dr. Dirk E. Hebel vom Karlsruher Institut für Technologie wird unserer gebauten Umwelt eine besondere Schlüsselrolle zuteilwerden: Gebäude und Infrastrukturen vergangener Jahrzehnte müssen „…sowohl als zukünftiger Rohstofflieferant als auch als Materiallager betrachtet werden.“ Da diese jedoch nicht für den Rückbau und die Wiederverwendung konzipiert und konstruiert worden sind, können die dort verwendeten Materialien und Bauteile nur in Maßen und unter hohem Energieeinsatz wiederverwendet werden. Unter Berücksichtigung der aktuellen Situation müssen also Konstruktionen und Fügeprinzipien entwickelt werden, die unsere gebaute Umwelt zu einem sortenreinen und einfach rückbaubaren Materiallager werden lässt. Im Materialpreis 2022 wurden Materialentwicklungen ausgezeichnet, die diesen Gedanken aufgreifen. Sie sind dabei sich am Markt zu etablieren und werden in Zukunft eine relevante Rolle spielen. 

Dass kreislauffähige Entwicklungen oftmals Jahrhunderte alte, tradierte Methoden aufgreifen, zeigt sich beim ersten schießbaren Holznagel der Welt. Holznägel werden seit dem Mittelalter im Fachwerkbau eingesetzt und stehen für eine kraftschlüssige und langlebige Verbindung. Die Raimund Beck KG hat mit dem Lignoloc ein ökologisches Fügungssystem entwickelt, das metallfreie, hocheffiziente und kreislauffähige Bauprojekte ermöglicht, und sich dabei den Holzschweißeffekt zu Nutze macht. Holznägel aus zentraleuropäischer Buche aus nachhaltiger FSC-Forstwirtschaft werden – ohne Vorbohren – mit dem eigens entwickelten Druckluftnagler in Holz und Holzwerkstoffe eingeschossen. Durch die beim Eintreiben des Nagels entstehende Reibung verschmilzt das Lignin des Holznagels mit dem des Umgebungsholzes zu einer unlösbaren Verbindung – und das sortenrein. Das System reduziert so die Wärmeleitfähigkeit, ist korrosions- und chemikalienbeständig und verringert CO₂-Emission um mehr als 70 % im Vergleich zu konventionellen Nagel-Systemen.

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LIGNOLOC Holznagel mit Kopf von Raimund Beck KG © Raimund Beck KG

Einen besonderen Ansatz im Umgang mit Holz verfolgt auch HygroShape, eine Entwicklung des ICD Institut für Computational Design an der Universität Stuttgart, das eine Auszeichnung in der Kategorie Studie erzielt hat. Statt der herkömmlichen Trocknungsphase, der Holz bis zum Erreichen der Verwendungsfeuchte ausgesetzt wird, wird hier das hygroskopische Schwinden, das natürlicherweise in erntefrischem Holz stattfindet, gezielt genutzt. Denn Holz ist ein in hohem Maße programmierbares Material, bei dem eine Änderung des Volumens und der Steifigkeit mit einer Änderung des Feuchtegehalts korreliert. Das Konzept der Materialprogrammierung, bei dem die Formänderung physisch in das Materialsystem kodiert wird, nutzt das bislang vernachlässigte Potential des nachwachsenden Rohstoffs Holz für digitales Design und Fertigung. Aufwendige Pressformen, die zur Herstellung von gekrümmten Bauteilen benötigt würden, werden durch das nachhaltigere Verfahren, das ausschließlich durch das Material selbst betrieben wird, obsolet.

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Bauteile werden in flachem Zustand hergestellt und formen sich von selbst.
Bild © ICD Universität Stuttgart, Robert Faulkner

Ausgezeichnet in der Kategorie Studie wurde auch BetaWare von Lara Weller, Absolventin der BauhausUniversität Weimar und nun im Team von raumprobe. Die Produktdesignerin hat aus Zellulose und Melasse der Zuckerrübe – beides Beimaterialien der Zuckerherstellung – einen veganen und kompostierbaren Werkstoff entwickelt. Das neue Material ist mit üblichen Holzwerkzeugen und Verfahren wie Fräsen, Drehen, Sägen, Bohren und Schleifen bearbeitbar. Darüber hinaus kann BetaWare durch Formpressen in jegliche Produktform gebracht werden. Nach der Zwischennutzung als Kleiderbügel, Klammer oder Aufbewahrungsdose kann das Material dem Kreislauf wieder zurückgeführt, also kompostiert werden oder in der Biogasanlage fermentieren. Die Kompostierung setzt ein, sobald das Material nass wird und Umwelteinwirkungen ausgesetzt ist.

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BetaWare ist im Spritzguss- und Formpress-Verfahren verarbeitbar
Bild © Lara Weller

Auch Nevi Betula Veneer ist im Grunde genommen ein Biopolymer. Das Material wird aus dem nachwachsenden Werkstoff Birkenrinde gefertigt, deren Materialeigenschaften und chemische Struktur im Heute md Beitrag 10/11 daraus gefertigten Material erhalten bleiben: Die Birkenrinde ist einerseits frei von wasseraufnehmender Zellulose, andererseits sind erhebliche Mengen der wachsartigen Substanzen Suberin und Betulin enthalten, was das Quellen im Direktkontakt mit Wasser unterbindet. Hinzu kommen Griffigkeit, antimikrobielle Beschaffenheit und samtige Haptik, die im mit einem PH-Wert von 5,5 exakt denselben Wert wie menschliche Haut aufweist. Die Nevi Betula Surfaces hat sich diesen Naturstoff, der jahrtausendelang auf Dächern, im Bootsbau und im Haushalt handwerklich verarbeitet und verwendet wurde, zu eigen gemacht und es in Zusammenarbeit mit Forschung und Entwicklung geschafft, ihn maschinell zu verarbeiten. Mit Nevi Betula Flooring ist ein rutschfester Fußboden mit fugenloser Optik entstanden, der auf Trägerplatten aus 100 % natürlichem Stroh aus regionaler Produktion in Bad und Spa-Bereichen zum Einsatz kommt. Die Birkenrinde, deren Ernte – ähnlich wie bei der Korkeiche – von Hand erfolgt, ohne dass die Bäume gefällt werden, findet auch als Griffmaterial Einsatz. Die Begeisterung über das natürliche Produkt, seine besonderen Nachhaltigkeitsaspekte, vielseitige Anwendungsmöglichkeiten und die persönliche Entstehungsgeschichte. waren der Jury des Materialpreis 2022 einen Sonderpreis wert.

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Dank seiner wachsartigen Substanzen ist Nevi Betula Flooring als nassraumtaugliches Fußbodenmaterial geeignet
Bild © nevi.io

Neben der Etablierung des Urban Minings sowie der Entwicklung kreislauffähiger Materialien und nachhaltiger Fügungsprinzipien durch die Baubranche ist natürlich auch eine anzupassende Haltung Seitens Bauherrenschaft und Nutzenden – also der kompletten Gesellschaft – unabdingbar: Das Loslassen von immerwährender Perfektion und tagesaktueller Präsenz, die in den letzten Jahren immer weiter Fahrt aufgenommen hat, zu Gunsten längeren Nutzungszyklen über Trends hinweg. Auch die Akzeptanz von Alterungsprozessen, Makeln und das Retablieren von Sanierungen und Reparaturen an Gebäuden statt eines Komplettaustausches – kurzum ein verantwortungs- und rücksichtsvolles Verhalten einer jeden Person – würden unserer Gesellschaft und unserem Planeten über alle Bereiche des Lebens hinweg zukünftig dienlich sein. 

Jörg Schmitt


Innenarchitekt Jörg Schmitt ist seit 2013 als Projektleiter für den Materialpreis zuständig. Mit seiner Zuständigkeit für Art Direktion, Öffentlichkeitsarbeit und Homepage, wendet er sich zudem mit dem Materialnewsletter an die zahlreichen Mitglieder und Interessierten von raumprobe und führt Besuchergruppen durch die Materialwelt. Darüber hinaus ist der Innenarchitekt auch beratend tätig.

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