Instrumente zur nachhaltigen Transformation

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Interview mit Tilmann Kramolisch von natureplus

Durch den derzeit stattfindenden gesellschaftlichen Wandel manifestiert sich auch in der Baubranche der Gedanke hin zur Nachhaltigkeit. Immer stärker werden Innenausbau, Möbel und Materialien in diesem Kontext diskutiert. Der Königsweg lautet ganzheitlich und lebenszyklusorientiert. Welche Kriterien und Zertifikate werden hierfür angesetzt? Worauf wird bereits geachtet und wohin zeigen neuste Entwicklungen? Wir sprachen mit Tilmann Kramolisch, Geschäftsführer vom natureplus-Gütesiegel, über Zertifizierungen und klima- und kreislaufgerechtes Bauen.

Euer Slogan „natürlich nachhaltig bauen“ ist leider noch nicht selbstverständlich in der Bauwirtschaft angekommen. Was ist die Intention diesbezüglich von natureplus?

Nachhaltiges Bauen ist ein ziemlich weiter Begriff und viele Leute verstehen da etwas anderes darunter, mit dem Zusatz „natürlich“ geben wir dem schon einen besonderen Spin: Tatsächlich steht das Bauen mit natürlichen Materialien wie Holz, Lehm, Stroh oder Kalk im Mittelpunkt unseres Interesses. Wir sehen uns aber nicht als Öko-Ideologen, sondern gehen streng wissenschaftlich an die Sache heran. Aus diesen einfachen Materialien lassen sich nämlich heute High-Tech-Baustoffe fertigen, die den konventionellen Produkten auch von ihrer technischen Performance oft überlegen sind. Und zudem trifft es sich, dass natürliche Materialien zumeist eine günstigere Ökobilanz aufweisen, geringer durch Schadstoffe belastet sind und bei ihrer Herstellung weniger Ressourcen verbrauchen und die Umwelt schädigen.

Wir sehen Nachhaltigkeit beim Bauen ganzheitlich, weil uns nicht nur Einzelaspekte interessieren, sondern wir die Produkte über den ganzen Lebenszyklus betrachten, von der Gewinnung der Rohstoffe und Ausgangsmaterialien über den Herstellungsprozess bis hin zum Einbau, der Nutzung und späteren Entsorgung oder besser Nachnutzung. Für alle diese Lebensphasen haben wir strenge Anforderungen in über 100 Vergaberichtlinien für unser gleichnamiges Umweltzeichen natureplus formuliert. Wir überprüfen diese mit anerkannten Analyse- und Berechnungsverfahren, die Informationen gewinnen die von uns beauftragten Labore und Gutachter aus erster Hand.

 

Während also das Umweltzeichen unser wichtigstes Instrument zur nachhaltigen Transformation der Baustoffherstellung ist, arbeiten wir als Verein vor allem an der Weiterentwicklung unserer Kriterien – beispielsweise in Richtung Kreislaufwirtschaft und Lieferkettentransparenz – und an der gesellschaftlichen Verankerung unserer Philosophie bzw. unseres Labels. Es ist für unsere Kunden essenziell, dass sie mit natureplus besser an Aufträge herankommen, etwa weil bei Ausschreibungen von Behörden oder engagierten Unternehmen die von uns bestätigten Produkteigenschaften gefordert werden. Deshalb veranstalten wir zahlreiche Seminare und Fortbildungen und wirken gemeinsam mit unseren Partnern auf die Öffentlichkeit ein. Dies ist im Übrigen nicht allein eine riesige Aufgabe in Deutschland, sondern wir haben den Anspruch, auch in unseren Nachbarländern zusammen mit Partnern Präsenz zu zeigen und die öffentliche Meinung zu beeinflussen.

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Wer steckt hinter natureplus?

Das sind beispielsweise WWF Schweiz, BAUFRITZ, BUND oder auch der TÜV Süd. Der natureplus e.V. ist in Deutschland als gemeinnütziger Umweltverband anerkannt und bildet in seiner Mitgliederstruktur die ganze Breite der Stakeholder im Bausektor ab, also auf der einen Seite die Baustoffhersteller, Baustoffhändler, Bauhandwerk und Planerinnen und Planer, auf der anderen Seite die Umweltorganisationen, (Verbraucher-)Beratungsinstitutionen, wissenschaftlichen Institute und die Gewerkschaften. Auch interessierte Einzelpersonen können Mitglied werden. Unsere Satzung ist so aufgebaut, dass alle diese verschiedenen Gruppen, unabhängig von der jeweiligen Zahl der Mitglieder, gleichberechtigt vertreten sind. Zurzeit haben wir etwa 90 Mitglieder aus 9 europäischen Ländern, die meisten kommen allerdings aus Deutschland. Zudem kooperieren wir mit zahlreichen Verbänden und Institutionen und schaffen dadurch ein breiteres Vertrauen in unsere Arbeit.

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Wie läuft bei natureplus der Prozess einer Zertifizierung ab? Was muss ich als Materialhersteller tun, um Euer Zertifikat zu erhalten?

Zunächst sollte sich der Hersteller anhand der öffentlich zugänglichen Vergaberichtlinien informieren, ob sein Produkt für eine Zertifizierung in Frage kommt. Zur ersten Einschätzung leisten wir von natureplus gerne Hilfe, sich in den zahlreichen Grundlagen- und Produktkriterien zurechtzufinden.

Alsdann beauftragt der Hersteller die Vorprüfung bei der natureplus Institute SCE. Dieses unabhängig und genossenschaftlich organisierte Institut prüft, ob das Bauprodukt grundsätzlich zertifizierbar ist und spart dem Hersteller damit im Zweifel weitere Kosten. Hierbei müssen schon alle prüfungsrelevanten Angaben (Zusammensetzung, Herstellungsverfahren, Rohstoffherkunft) vom Hersteller deklariert und wenn möglich auch dokumentiert werden.

 

Die eigentlichen Prüfungen erfolgt dann nach einem abgestimmten Prüfplan und beginnen mit einer Vor-Ort-Begehung der Fertigungsstätte/n, bei der Einsicht in diverse Dokumente zur Verifizierung der Herstellerangaben und Proben für die Laboranalysen genommen werden. Zur Qualitätsprüfung werden Ökobilanzgutachten erstellt oder bestehende Gutachten (EPDs) analysiert. Ist die Prüfung erfolgreich, überreichen wir als natureplus Verein dem Hersteller das Zertifikat. Das ist für 3 bis 5 Jahre gültig, die weiterhin laufende Qualitätsüberwachung übernimmt das natureplus Institute.

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Mit der natureplus-Produktdatenbank habt Ihr eine Positivliste aller von Euch zertifizierten Produkte. Welche Angaben finde ich dort und wie viele Materialien sind gelistet?

Es sind ungefähr 600 Produkte, vom Ziegel bis zum Dämmstoff, vom Leimholz bis zur Wandfarbe gelistet, in der Datenbank gibt es sowohl technische Informationen zu den Produkteigenschaften als auch Informationen zu den von uns durchgeführten Prüfungen.

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Unter dem Motto "RE.THINK BUILDING - Materialien und Lowtech für klima- und kreislaufgerechtes Bauen" veranstaltet natureplus am 09. September 2022 in Berlin eine Fachkonferenz. Warum lohnt sich der Besuch?

Die Fachkonferenz ist nach der Sommerpause ein toller Auftakt, bei der die zahlreiche Fachleute ihre Expertise und praktisches Fachwissen mitgeben und mit konkreten Gebäudebeispielen Lust machen auf die Bauwende.  Auf unserer Website www.natureplus.org kann man sich direkt anmelden und übrigens: mit Hannes Bäuerle ist auch raumprobe dabei, das freut uns besonders.

Durch die kriegsbedingte Materialknappheit, steigende Zinsen und Kosten sowie den generellen Fachkräftemangel kommen der Wohnungsbau insgesamt, aber auch die klimagerechte Bestandssanierung und die dringend benötigte Wärmewende nicht in dem notwendigen Tempo voran, um die Verpflichtungen nach dem Klimaschutzgesetz zu erfüllen. 

Mit unserer Fachkonferenz versuchen wir, Lösungen aufzuzeigen, welche stärker auf die Materialien zielen als auf die Technik. Damit verbinden wir die Aussicht auf eine neue dynamische Entwicklung durch eine wirkliche Bauwende – also nicht immer mehr Aufwand für immer weniger Ertrag, sondern ein wirkliches Umdenken ist angesagt. Hierfür haben wir herausragende Referierende aus Wissenschaft, Praxis und Politik mit jede Menge Erfahrung gewinnen können, aber auch vordenkende Menschen mit Visionen. Wir selbst sind schon sehr gespannt auf deren zukunftweisende Ideen und freuen uns natürlich auch über viele Anwesende.

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Gratulation zu 20 Jahre natureplus! Wo denkst Du, steht die Zertifizierung und das nachhaltige Bauen in den nächsten 20 Jahren?

Vielen Dank für die Glückwünsche! Beim nachhaltigen Bauen haben wir es mit einem Megatrend zu tun. Schon allein wegen den Anforderungen des Klimaschutzes rücken die Materialien und Bauweisen stärker in den Mittelpunkt, hinzu kommt die generelle Rohstoffknappheit und die daraus abzuleitende Frage der Kreislauffähigkeit von Produkten. Da sind natürliche Materialien und RC-Baustoffe klar im Vorteil. Dass all dieses flankiert werden muss durch eine glaubwürdige Zertifizierung ist angesichts der zahlreichen Greenwashing-Versuche für mich völlig klar. Ob es uns allerdings als kleinem und finanzschwachen Player gelingen wird, diesen Trend entscheidend mitzubestimmen, das werden wir erst in 20 Jahren wirklich sagen können. Wir tun jedenfalls unser Bestes.

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Wie trägt / finanziert sich natureplus?

Der natureplus e.V. ist ein (mittlerweile gemeinnütziger) Umweltverband, der primär von Mitgliedsbeiträgen, (bis jetzt noch recht wenigen) Spenden und projektgebundenen Fördermitteln der öffentlichen Hand lebt. Diese Einnahmen decken allerdings nur rund ein Drittel unserer Kosten. Zum größten Teil finanziert sich natureplus aus den Lizenzgebühren zur Nutzung seiner eingetragenen Marke. Die zertifizierten Hersteller müssen einen bestimmten Betrag bezahlen, wenn sie mit natureplus und seinem Logo werben. Das ist der Wirtschaftsbetrieb des Vereins, ohne den unsere ganze Forschungs-, Aufklärungs-, Informations- und Lobbyarbeit nicht möglich wäre.

natureplus e.V.

Hauptstraße 24
69151 Neckargemünd
Deutschland

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Bild rechts: Tilmann Kramolisch ©natureplus

Interesse geweckt? Seien Sie mit dabei am 09. September 2022 bei der Fachkonferenz Re.Think Building...

 

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